Die finnische Oper

– von Pekka Hako

Musikforscher und Autor

© Anna Hako

 

© Stefan Bremer

Aulis Sallinens „König Lear“ in der Finnischen Nationaloper. Im Bild Matti Salminen

Die finnische Opernkultur hat in den letzten drei Jahrzehnten einen starken Aufschwung erlebt. Wendepunkt war das Jahr 1975, in dem Aulis Sallinens Der Reitersmann und Joonas Kokkonens Die letzten Versuchungen uraufgeführt wurden. Diese Werke gaben den Anstoß für eine wachsende Opernbegeisterung, die sich schnell auf große Volksopern, aufgeführt auf Freilichtbühnen, sowie auf ländliche Laienopern ausweitete. Schon bald wurden auch Singspiele und Musicals als Opern bezeichnet. In den letzten dreißig Jahren ist die Oper in Finnland zu einer Kunstform für das breite Publikum geworden.


Publiziert Juni 2004. © 1995 – 2005, Virtual Finland
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Department for Communication and Culture

Die Anfänge
© Volker von Bonin

Das Alexander-Theater in Helsinki

In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden in Viipuri (heute Wyborg in Rußland) die ersten vollwertigen Opern in Finnland aufgeführt. Viele Ensembles, vor allem aus Deutschland, traten in Viipuri auf, weil die Stadt verkehrsgünstig in der Nähe der Metropole St. Petersburg lag. Finnland war zu jener Zeit ein russisches Großfürstentum. Anfangs gastierten ausländische Ensembles in Viipuri, Turku und Helsinki, aber gegen Mitte des Jahrhunderts lernte man die neue Kunstform auch in Kuopio und Oulu kennen. Italienische und deutsche Werke dominierten das Programm.

Ohnehin stand das finnische Musikleben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter starkem deutschen Einfluss. So ließ sich der deutsche Dirigent und Komponist Fredrik Pacius (1809-1891) in Finnland nieder und unterrichtete ab 1835 Musik an der Universität Helsinki. Er begann das Musikleben seines neuen Heimatlandes vielfältig zu entwickeln. Pacius komponierte die erste finnische abendfüllende Oper König Karls Jagd (Kung Karls jakt, 1851/1875/1879). Die mit Laiendarstellern verwirklichte Aufführung hatte im März 1852 in Helsinki Premiere. Es war ein historisches Ereignis, und die Künstler wurden als Volkshelden gefeiert. Die bombastisch im frühromantischen Stil komponierte Rettungsoper weckte nationale Gefühle. Das Werk wurde vor vollen Rängen neun Mal aufgeführt. Dies ist besonders bemerkenswert, wenn man berücksichtigt, dass Helsinki damals nur 20.000 Einwohner hatte und die kulturell interessierte Bildungsschicht sehr dünn war.

© Finlandia Records

Der deutsche Komponist und Dirigent Fredrik Pacius (1809-1891)

Im Jahr 1879 wurde an der Helsinkier Bulevardi-Straße das russische Garnisonstheater, das Alexander-Theater, fertiggestellt. Es wurde schon bald eine wichtige Bühne für Gastauftritte ausländischer Opernensembles. Beispielsweise gab hier ein italienisches Gastensemble im Frühjahr 1896 Ruggiero Leoncavallos I pagliacci sowie Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana nur wenige Jahre nach der Premiere der Opern in Italien.

Die wichtigsten Opernaufführungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1904-1906) waren Wagner-Inszenierungen im Finnischen Nationaltheater. Die Sängerin Maikki Järnefelt und ihr Mann, der Komponist und Dirigent Armas Järnefelt brachten zusammen mit dem Impresario Edvard Fazer die Werke des deutschen Komponisten auf die Bühne.

Die erste Oper in finnischer Sprache

Ende des 19. Jahrhunderts spiegelte sich die nationale Begeisterung, die große Teile Europas ergriffen hatte, in den Opernlibretti in Form nationaler Stoffe wider. So auch in Finnland, wo ein wachsendes Verlangen nach einer auf dem Nationalepos Kalevala basierenden Oper bestand. Schließlich schrieb die Finnische Literaturgesellschaft einen Komponistenwettbewerb für eine finnischsprachige Oper aus, als deren Resultat 1898 Oskar Merikantos (1868-1924) Jungfrau des Nordens (Pohjan neiti) entstand. Die nächste Oper mit Kalevala-Motiven war Aino (1909) von Erkki Melartin (1875-1937).

1910 wurde Selim Palmgrens (1878-1951) Daniel Hjort (1909/1937) uraufgeführt. Als Vorlage dienten Ereignisse der finnischen Geschichte.

Gründung einer eigenen Oper
© Matti Tirri

Olavinlinna-Burg

Das Jahr 1911 war entscheidend in der Geschichte der finnischen Oper: Eine Gruppe bekannter Persönlichkeiten – allen voran die international bekannte Starsopranistin Aino Ackté – gründete die Einheimische Oper. Die Leitung der neuen Oper verstand die Oper als vielsprachige Kunstform und verpflichtete sowohl finnische als auch ausländische Opernschaffende. Die Einheimische Oper wurde 1914 in Finnische Oper umbenannt, und heißt seit 1956 Finnische Nationaloper.

1912 gründete Aino Ackté die Olavinlinna Opernfestspiele (heute Savonlinna Opernfestspiele), bei denen in den ersten drei Jahren ausschließlich finnische Werke aufgeführt wurden. Die letzten von Ackté organisierten Festspiele fanden 1930 statt. Sie wurden erst 1967 wiederbelebt, und die mittelalterliche Burg Olavinlinna etablierte sich neben der Nationaloper als zweite wichtige Opernbühne des Landes. Die Savonlinna Opernfestspiele entwickelten sich schnell zu einem international renommierten Opernfestival.

Jährlich besuchen über 50.000 Besucher die Opernfestspiele in Savonlinna, darunter ein bedeutender Teil aus dem Ausland. Als Opernbühne dient der Burghof der im 15. Jahrhundert errichteten Burg – in ihm finden 2000 Zuschauer Platz.

Finnland wurde 1917 unabhängig, und 1919 erhielt die Finnische Oper ein eigenes Haus, das Alexander-Theater. In den bescheidenen Räumen des ursprünglichen Sprechtheaters war die Oper bis 1993 untergebracht, als an der Helsinkier Töölö-Bucht das erste echte Opernhaus Finnlands fertiggestellt wurde.

Im Jahrzehnt der finnischen Selbständigkeit wurden in der Oper die finnische Sprache, Kultur und eine realistische Volksbeschreibung betont. Die Forderung nach einer Oper mit einem Libretto in finnischer Sprache erfüllte Armas Launis (1884-1959) mit Sieben Brüder (Seitsemän veljestä, 1913). Als Vorlage diente der 1870 erschienene gleichnamige Roman von Aleksis Kivi. Launis konzentrierte sich von Anfang an auf die Arbeit als Opernkomponist. Nach Sieben Brüder interessierte er sich für die Kullervo-Thematik. Die Kullervo-Uraufführung 1917 in der Finnischen Oper war ein Erfolg und das Werk wurde 1929 und 1934 erneut ins Repertoire aufgenommen. Auch in Frankreich wurde die Oper mit großem Erfolg aufgeführt.

Internationales Niveau
© Finnische Nationaloper

Leevi Madetojas Oper „Die Österbottnier“ in der Finnischen Oper, 1923.

In den zwanziger Jahren wurde das Opernleben internationaler. Zahlreiche ausländische Sänger traten in der Finnischen Oper auf, und der Arbeit der Regisseure wurde mehr Beachtung geschenkt als zuvor. Die zwanziger Jahre waren in dem gerade erst selbständig gewordenen Finnland das Jahrzehnt der Radikalbewegungen. Man war entweder radikal oder der Tradition verbunden. Beide Gruppierungen hoben die finnische Opernkomposition auf internationales Niveau. Aarre Merikanto (1893-1958), einer der Begründer des finnischen Modernismus, schrieb eine Musik, die von den farbenprächtigen Werken Alexander Skryabins inspiriert war. Merikantos Musik war im Innersten romantisch, aber er vermischte auf reizvolle Weise impressionistische und expressionistische Elemente.

Zur gleichen Zeit folgte Leevi Madetoja (1887-1947) dem von Jean Sibelius aufgezeigten nationalromantischen Weg und bereicherte seine Musik mit französischen Elementen. Die Tonsprache Madetojas war für seine Zeitgenossen leichter zu verstehen als die von Merikanto, und seine Oper Die Ostbottnier (Pohjalaisia, 1923) wurde im In- und Ausland ein Riesenerfolg. Die Tonsprache der Modernisten wurde dagegen als unfinnisch verurteilt, und vielen wichtigen Werken blieb die Aufführung versagt. Dieses Schicksal widerfuhr auch Merikantos Oper Juha (1922), die ihre Premiere erst 40 Jahre nach ihrer Fertigstellung hatte. Die Ostbottnier und Juha gehören zu den wichtigen Werken der finnischen Opernliteratur – seit ihrer Uraufführung gehören sie verdienterweise zum Standardrepertoire.

In der Atmosphäre des Modernismus der Zwanziger entstanden Väinö Raitios (1891-1945) erste kraftvolle Kompositionen. In seiner letzten Oper strebte er folgerichtig nach einem strengen Opernstil, in dem der Gesang dem Text und der Dramaturgie untergeordnet wird. Mit seinen fünf Opern nimmt Väinö Raitio in der finnischen Operngeschichte einen bedeutenden Platz ein. Er war ein Pionier, der sich nicht hat beirren lassen von der mangelnden Beachtung durch das vorurteilsbeladene Publikum seiner Zeit.

Die Nachkriegsjahre

 

© Suomen Säveltäjät / Taisto Tuomi

Der Komponist Tauno Pylkkänen (1918-1980).

Der Zweite Weltkrieg isolierte die finnische Musik von neuen Stilrichtungen. Keiner der in den 40er und 50er Jahren hervorgetretenen Opernkomponisten war wirklich revolutionär. Zwar gab es Bemühungen, neue Musikelemente einzuführen, aber wirklich neuartige Opern entstanden erst in den 60er Jahren, die letztlich zu dem Opernboom der 70er Jahre führte.

Nach dem Krieg trat der junge Tauno Pylkkänen (1918-1980) als vielversprechender Opernkomponist hervor. Er war ein postromantischer Tondichter, der der Melodie, wie sie die italienische Oper verkörperte, verpflichtet war und in seinem Werk nicht auf die modernen Herausforderungen der Zeit einging. Pylkkänen schuf jedoch eine für Finnland neue Gattung: kleine Opern für normale Orchester und nicht für Kammerorchester.

Seinen Durchbruch hatte Tauno Pylkkänen, einer der produktivsten finnischen Opernkomponisten, 1945 mit der Uraufführung von Mare und ihr Sohn (Mare ja hänen poikansa, 1943) in der Finnischen Oper. Die Oper beruht auf Texten der Schriftstellerin Aino Kallas. Seinen größten internationalen Erfolg erzielte Pylkkänen mit der Oper Wolfsbraut (Sudenmorsian, 1950).

An der Schwelle des Umbruchs

Mit der Gründung zahlreicher Operngesellschaften im ganzen Land erhielt das Opernleben in den 60er und 70er Jahren zunehmend Lokalkolorit. Schon gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die ersten regionalen Operngesellschaften in Tampere, Vaasa und Lahti gegründet. Auf den regionalen, kleinen Bühnen wurden rund 20 finnische Opern uraufgeführt. Das Engagement der Operngesellschaften war besonders wichtig für Tauno Marttinen (geb. 1912). Fast alle Werke seiner umfangreichen Opernproduktion wurden von diesen Gesellschaften in Auftrag gegeben und hatten ihre Premiere außerhalb der Hauptstadtregion. Die Finnische Nationaloper wiederum bekam neuen Auftrieb, als sie 1963 ihr eigenes Opernorchester erhielt.

Nimmt man die Zahl der Werke zum Maßstab, ist Tauno Marttinen Finnlands produktivster Opernkomponist: Er hat rund zwanzig Opern geschrieben. Seine bedeutendste Oper ist Die verbrannte Orange (Poltettu oranssi, 1968), in der er sich mit der menschlichen Natur und mit Religionsphilosophie auseinander setzte und auf diese Weise eine neue Klangfarbe suchte.

Einojuhani Rautavaara
© Värisuomi / Matti Kolho

Einojuhani Rautavaaras Oper „Aleksis Kivi“ bei den Savonlinna Opernfestspielen 1997. Im Bild Jorma Hynninen.

In den 60er Jahren begann sich die finnische Opernkomposition langsam von den nationalen Wurzeln zu lösen. Die bedeutendste Opernneuheit des Jahrzehnts war das 1963 im Fernsehen aufgeführte dodekaphonische Das Bergwerk (Kaivos, 1963) von Einojuhani Rautavaara, das in seiner Expressivität eng mit der europäischen Operntradition des 20. Jahrhunderts verknüpft war. Das Werk repräsentiert die zehnjährige dodekaphonische Phase Rautavaaras und ist auch eines der prominentesten Werke der dodekaphonischen Periode Finnlands.

In den 80er Jahren fand Rautavaara in seinem Stil zu einer Synthese, und gab den Modernismus auf, von dem er sich eingeengt fühlte. Entscheidend für die Veränderung waren Werke, die auf dem Kalevala basierten – das wichtigste war der Dreiakter Thomas (1985). Als Vorarbeit dieser Oper entstand der für einen Männerchor komponierte Gesang 42, (Runo 42) besser als Der Raub des Sampo (Sammon ryöstö) bekannt (1974/1982), sowie eine Kinderchor-Oper, das kalevalistische Mysterium Marjatta, die geringe Jungfrau (Marjatta, matala neiti, 1975).

Der Raub des Sampo schildert Finnland unter der Herrschaft der heidnischen Wikinger im 9. Jahrhundert, und die auf dem 50. Gedicht des Kalevala basierende Marjatta ist ein lyrisch-symbolisches Bild der Ankunft des christlichen Glaubens in Finnland, eine Mischung aus finnischer und europäischer Tradition. In Thomas ist der kulturelle Umbruch schon geschehen, da die Kaleva-Kultur sich mit der westlichen Kultur verschmolzen hat.

Einsetzende Opernbegeisterung

 

© Savonlinna Opernfestspielen / Imagebank

Aulis Sallinens Oper „Der Reitersmann“ bei den Savonlinna Opernfestspielen 1975.

Das bedeutendste Einzelereignis der 60er Jahre war 1967 die Wiederbelebung der Oper Juha, die Aarre Merikanto schon in den 20er Jahren komponiert hatte. Die sorgfältig vorbereitete Aufführung bereitete den Boden für die Opernbegeisterung, die in den 70er Jahren zu voller Blüte gelangen sollte.

In den 70er Jahren begann der Aufstieg Finnlands zu einem der weltweit führenden Opernländer, in dem das klassische und das moderne Repertoire gleichwertig nebeneinander existieren. Das finnische Opernfieber stieg mit der Aufnahme von Mozarts Zauberflöte 1973, Mussorgskis Boris Godunow 1974 sowie neuer finnischer Opern in das Programm der Savonlinna Opernfestspiele. Der Erfolg war zu einem großen Teil dem international anerkannten Basssänger Martti Talvela zuzuschreiben, der sowohl künstlerischer Leiter der Festspiele war als auch als Sänger auf der Bühne stand.

© Kari Hakli

Joonas Kokkonens Oper „Die letzten Versuchungen“ in der Finnischen Nationaloper 1975. Im Bild Ritva Auvinen und Martti Talvela.

Angeregt von den Aufführungen der Savonlinna Opernfestspiele, begannen die Musikfestspiele Ilmajoki volkstümliche Opern auf die Bühne zu bringen. Charakteristisch für diese Opern waren Darstellungen des Volkslebens, eine leicht verständliche Musik und die Aufführung im Sommer auf großen Naturbühnen. Die Darbietungen setzten die Tradition des Sommertheaters fort und wurden so populär, dass später viele Gemeinden begannen, Opern mit lokalem und historischem Bezug aufzuführen. Wohl nirgendwo anders in der Welt haben sich in den letzten zwanzig Jahren neue Opern derart vital mit der Mainstream-Musikkultur vermischt wie in Finnland.

Die Stellung der Oper in Finnland wurde Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre durch zahlreiche erfolgreiche Gastspiele im Ausland gestärkt. Teil des Programms waren gewöhnlich Joonas Kokkonens Die letzten Versuchungen und Aulis Sallinens Der rote Strich. Höhepunkt war ein Gastspiel der Nationaloper in der New Yorker Metropolitan Opera im Frühjahr 1983.

Die von den Savonlinna Opernfestspielen bei Aulis Sallinen (geb. 1935) in Auftrag gegebene Oper Der Reitsersmann (Ratsumies, 1974) leitete einen dreiteiligen Opernzyklus ein, in dem jedes Werk auf seine Art eine Periode in der finnischen Geschichte reflektiert. In dem Werk wird zugleich die Erweiterung des gesellschaftlichen Blickwinkels des Komponisten deutlich. Während Der Reitersmann eine balladenhafte Liebesgeschichte ist, geht es bei der auf einem Proletarierroman basierendem Oper Der rote Strich (Punainen viiva, 1978) bereits um soziale Fragen nationaler Tragweite. Der König begibt sich nach Frankreich (Kuningas lähtee Ranskaan, 1983) schließlich befasst sich mit Fragen weltweiter Bedeutung.

Kullervo (1988), eine Auftragsarbeit anlässlich der Einweihung des neuen Helsinkier Opernhauses, ist Sallinens vierte Oper. Für das Drama über eine einzelne Person nahm Sallinen das Kalevala und Aleksis Kivis Theaterstück Kullervo als Vorlage. Der Palast (Palatsi, 1993) ist ein satirisches Werk über die Macht. Schauplatz der Oper ist der äthiopische Kaiserhof, aber das Libretto ist zugleich eine Parodie auf Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail. Auch in seiner neusten Oper, König Lear (Kuningas Lear, 1999), behandelt Sallinen auf dem Fundament der Shakespeare-Tragödie das Thema Macht – den Griff nach der Alleinherrschaft und ihren Verlust.

Alle Opern von Aulis Sallinen sind auch von ausländischen Opernhäusern inszeniert worden. Die bedeutendsten Produktionen wurden in den USA, in Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Schweden und Estland auf die Bühne gebracht.

Neben Aulis Sallinen erzielte in den 70er Jahren Joonas Kokkonen (1921-1996) mit seiner einzigen Oper einen Durchbruch beim breiten Publikum. Die letzten Versuchungen (Viimeiset kiusaukset, 1975) ist mit Leevi Madetojas Ostbottnier eine der erfolgreichsten Opern Finnlands. Seit ihrer Premiere ist sie bereits nahezu 300 Mal aufgeführt worden. Die Finnische Nationaloper hat das Werk bei ausländischen Gastspielen außer in der New Yorker Metropolitan Opera auch in sechs anderen Städten gegeben, und von 1977 bis 1982 stand es auf dem Programm der Savonlinna Opernfestspiele.

Es ist nicht einfach, eine Erklärung für den Erfolg dieser Oper zu finden. Ihr Stoff ist untypisch für Opern. Das Werk erzählt vom Wirken und Leben des Paavo Ruotsalainen, eines Führers der Erweckungsbewegung in der finnischen Provinz, und seinem inneren Kampf bei der Suche nach Christus. Die Oper ist nur in der ersten und letzten Szene realistisch. Diese Szenen bestehen aus Sprechvorträgen von Theaterschauspielern. Die Hauptteile der Handlung spielen sich auf anderen Ebenen ab: Im Mittelpunkt stehen Halluzinationen und verzerrte Erinnerungen, die Paavo im Fieberwahn, während einer Winternacht auf seinem Sterbebett, erlebt.

Opernbegeisterung weitet sich aus

 

© Finland Festivals / Petri Kuokka

Musikfestspiele Ilmajoki 1984.

Die Begeisterung für die Oper, die in den 70er Jahren einsetzte, zeigte sich auch außerhalb der Savonlinna Opernfestspiele: Die Musikfestspiele von Ilmajoki entwickelten sich zu einer wichtigen Bühne für Volksopern mit lokalen Themen. Die beiden »Hauskomponisten« der Musikfestspiele Ilmajoki, die Dirigenten und Komponisten Jorma Panula (geb. 1930) und Atso Almila (geb. 1953), schrieben Opern, in denen sie die mittelwestfinnische Geschichte und Lebensform darstellen. Die auf großen Naturbühnen realisierten Aufführungen führten die Tradition des Sommertheaters fort, und die Wirkung dieser Opern wird zusätzlich durch die Vertrautheit und »Authentizität« der Schauplätze verstärkt.

Die Musikfestspiele von Ilmajoki haben mit der Oper in Vaasa zusammengearbeitet, die wiederum neue finnische Opern bei Ilkka Kuusisto (geb. 1933) in Auftrag gab.

Als neuer, kraftvoller Tondichter trat in den 70er Jahren Kalevi Aho (geb. 1949) hervor. Ahos erste Oper Der Schlüssel (Avain, 1978) ist ein szenischer Monolog für Bariton. Das Werk malt ein Bild von der Seelenlandschaft und der Lebensumwelt eines von Ängsten geplagten einsamen Menschen. Sein Thema ist die Entfremdung in der modernen Gesellschaft. Ahos Aus dem Leben der Insekten (Hyönteiselämää, 1987) wurde in der Finnischen Nationaloper mit großem Erfolg uraufgeführt. Das Libretto basiert auf einem satirischen Schauspiel von Karel und Josef Ĉapek.

© Kari Hakli

Kalevi Ahos Oper „Aus dem Leben der Insekten“ in der Finnischen Nationaloper 1996.

Die Savonlinna Opernfestspiele beauftragten Aho für die Festspielsaison 2000 mit dem letzten Teil der von drei Komponisten geschriebenen Trilogie Zeit und Traum (Aika ja uni). Die Kernproblematik des Vierakters Das Buch der Geheimnisse (Salaisuuksien kirja, 1998) konzentriert sich auf den Begriff der Wahrheit: Was ist Wahrheit, wer definiert sie und wie wissen wir, ob sie manipuliert worden ist?

Die im Jahr 2001 uraufgeführte Oper Bevor wir alle ertrunken sind (Ennen kuin me kaikki olemme hukkuneet, 1999) basiert ebenso wie Der Schlüssel auf einem Hörspiel von Juha Mannerkorva. In dem traumähnlichen Werk werden Fragen gestellt, auf die es keine klaren Antworten gibt.

Von den in den 50er Jahren geborenen Komponisten ist Olli Kortekangas (geb. 1955) der produktivste Opernschaffende gewesen. Seine erste Oper Short Story (1980) macht sich über die althergebrachten und festgefahrenen Formen der Opernkunst lustig. In den folgenden zwanzig Jahren veränderte sich seine Haltung: Die recht traditionell strukturierte Oper Marias Liebe (Marian rakkaus, 1999) hatte ihre Premiere im Sommer 2000 bei den Opernfestspielen Savonlinna – also dort, wo die finnische Opernbegeisterung ihre Anfänge nahm.

Die Fernsehoper Grand Hotel (1985) wurde vom absurden Theater beeinflusst. Das Buch des Joonas (Joonan kirja, 1995) steht der traditionellen Bühnenoper schon näher, aber auch hier suchte der Komponist nach neuen Ausdrucksmitteln für das Opern-Genre.

Kunstform für das breite Publikum

 

© Kari Hakli

Paavo Heininens Oper „Die Seidentrommel“ in der Finnischen Nationaloper 1989.

Die 80er Jahre waren für die finnische Oper eine Zeit des Wachstums und der Konsolidierung. Das thematische Spektrum weitete sich aus, was dazu führte, dass auch die Stilpalette breiter wurde. Als Gegengewicht zu Aulis Sallinens und Joonas Kokkonens volkstümlichen Opern mit ihren betont nationalen Themen, in denen die Hauptpersonen einfache Leute aus dem Volk waren, wurde 1984 die modernistische Oper Die Seidentrommel (Silkkirumpu, 1983) von Paavo Heininen (geb. 1938) uraufgeführt. Die Seidentrommel nimmt ein japanisches Thema als Vorlage und diente der nachfolgenden Komponistengeneration als Vorbild. Heininens zweite Oper unterscheidet sich deutlich von der Seidentrommel. Die vielschichtige Oper Das Messer (Veitsi, 1988) spielt in einer modernen urbanen Gesellschaft.

Charakteristisch für die Musik von Pehr Henrik Nordgren (geb. 1944) ist eine zutiefst melancholische und ergreifende Emotionalität. Der schwarze Mönch (Den svarte munken, 1989) ist eine relativ umfangreiche Kammeroper, deren Libretto der Komponist selber auf Basis einer Kurzgeschichte von Tschechow verfasste. Alex (1983) wiederum ist eine Fernsehoper.

Das finnische Musikleben ist von zwei aus Mitteleuropa zugezogenen Komponisten bereichert worden: dem aus Österreich stammenden Herman Rechberger (geb. 1947) und dem Deutschen Oliver Kohlenberg (geb. 1957). Das umfangreiche Œvre Rechbergers schließt zahlreiche Opern ein. Die Nonnen (1988/1995) wurde für alte Instrumente geschrieben. Die Kirchenoper Laurentius (1991) ist eine der wenigen lateinischsprachigen Opern. Rechberger neigt dazu, teilweise sehr unterschiedliche Stile zu kombinieren, was sich am eindringlichsten in dem Werk …nunc est semper… (1988) zeigt, einem halbstündigen oratorischen Fresko. Eine Besonderheit in Rechbergers Opernschaffen ist eine moderne Fassung der ältesten vollständig erhaltenen Oper der Welt, Euridice (1600) von Jacopo Peris. Darüber hinaus hat Rechberger drei Opern für Kinder und Jugendliche geschrieben.

Der aus Deutschland stammende Oliver Kohlenberg fand schon in seiner ersten Oper Das Bergwerk zu Falun (1975) die stilistischen und ästhetischen Züge, die seine Opern auszeichnen. Ein Aufenthalt auf Westsamoa inspirierte den Komponisten zu der Oper Sina und die Kokospalme (Sina ja kookospalmu, 1987). Kind von Sipirja (Sipirjan lapsi, 1988) wiederum ist die Synthese seiner bis dahin geschaffenen Musik. In der Oper Magdalena (2000) verwendet Kohlenberg Motive des Mittelalters und des Kalevala.

Beginn einer neuen Ära

 

© Paul Williams

Das neue Opernhaus in Helsinki wurde 1993 fertig gestellt.

1993 erhielt die finnische Oper mit der Eröffnung des Helsinkier Opernhauses endlich eine Bühne, die ihrer Bedeutung angemessen war und die Inszenierungen großen Stils ermöglichte. Dies gab dem Entstehen einer fruchtbaren Gegen- oder besser Parallelkultur Auftrieb: kleine und professionelle Opernensembles, die nach einem neuen Opernausdruck strebten. Die Entwicklung führte zur inhaltlichen Erneuerung der Opernkunst. Die Ensembles erweckten eine in Vergessenheit geratene Form der Oper zum Leben – die Kammeroper. So bekamen auch viele junge Komponisten die Gelegenheit, sich im Schreiben einer Oper zu versuchen.

Die erste Uraufführung im neuen Opernhaus war 1995 Der singende Baum (Det sjungande trädet, 1988) von Erik Bergman (geb. 1911). In vielen früheren Vokalwerken hatte Bergman, ein Pionier der finnischen Avantgarde, die menschliche Stimme vorurteilsfrei und mit großer Innovationsfreude eingesetzt, und Der singende Baum wurde eine große Synthese des Gesamtwerks von Bergman, eines gewandten Vokalkomponisten, espritvollen Koloristen und guten Kenners von Märchen und Mythen.

Der vielseitige Musiker und Komponist Jukka Linkola (geb. 1955) komponierte seine erste Oper für das Fernsehen. Angelika (1991) ist eine Schwindel erregende Reise in die geheimen Winkel des Geistes. Linkolas zweite Oper Elina (1992) basiert auf einer Volkssage. Das Werk ist eine Aneinanderreihung traumartiger Ereignisse, ein Kaleidoskop von Farben und Erscheinungen. Linkolas letzte Oper Das Land der erfüllten Wünsche (Reise) (Täyttyneiden toiveiden maa (Matka), 1998) ist lyrischer als Elina, und es beinhaltet mehr gesangliche Elemente, darunter vollwertige Arien.

Kimmo Hakola (geb. 1958) hat zwei Kammeropern geschrieben. Die Meistersänger vom Mars (Marsin mestarilaulajat, 2000) mit dem Untertitel »Niemand hört deinen Gesang im Weltraum«, ist eine unterhaltsame Besonderheit der finnischen Opernliteratur. Als Vorlage dienten Comics und sie ist mit ihrem absurden Humor eine der originellsten Opern, die je in Finnland geschrieben wurde. Das Thema von Hakolas zweiter Oper ist ernster. Senfsamen (Sinapinsiemen, 2000) behandelt das Leben eines religiösen Denkers und Dissidenten, der im 18. Jahrhundert in der mittelfinnischen Provinz lebte.

Mikko Heiniös (geb. 1948) Kirchenoper Der Ritter und der Drache (Riddaren och draken, 2000) wurde für die 700-Jahr-Feierlichkeiten des Doms zu Turku bestellt. Die Oper zeichnet sich durch die für Heiniö typische Mischung von Stilen und Techniken aus.

© Maarit Kytöharju

Die Komponistin Kaija Saariaho.

Kaija Saariahos (geb.1952) erste Oper L’amour de loin (Liebe aus der Ferne, 2000) ist die bedeutendste ausländische Auftragsarbeit der finnischen Operngeschichte. Das Werk wurde von den Salzburger Festspielen und dem Théâtre du Châtelet für die Festspielsaison 2000 bestellt. Die Oper war ein Riesenerfolg. Saariaho wurde dafür unter anderem der Grawemeyer-Kompositionspreis verliehen, der zu den wichtigsten Musikpreisen der Welt zählt. Das Thema der französischsprachigen Oper ist die Beschreibung einer mittelalterlichen Liebe. In der Oper gibt es nur drei Solisten, und in ihr werden die geistige und physische Liebe, Europa sowie die Töne des Orients miteinander verflochten. Die Oper führt die Thematik von Wagners Tristan und Isolde und Debussys Pelléas et Mélisande fort und geht als Kunstform von den selben Ausgangspunkten aus wie Olivier Messiaes Saint François d’Assise. Saariahos vergeistigte, getragene Musik ist sehr reich an Farben und Bildern.

Außer in Salzburg ist L’amour de loin unter anderem in Paris, in der Schweiz, in den USA und in Deutschland aufgeführt worden. Der internationale Erfolg von Kaija Saariahos Oper hat bereits die Erfolge von Aulis Sallinen, Joonas Kokkonen und Einojuhani Rautavaara übertroffen.

International erfolgreiche Sänger

 

© Savonlinna Opernfestspiele

Karita Mattila

Dutzende finnische Opernsänger treten regelmäßig auf internationalen Opernbühnen auf. Zur den weltweit bekanntesten gehören die Sopranistinnen Soile Isokoski und Karita Mattila, die Mezzosopranin Monica Groop, die Tenöre Jorma Silvasti und Raimo Sirkiä, die Baritone Jorma Hynninen und Tom Krause und die Bässe Matti Salminen und Jaakko Ryhänen.

Über den Autor:
Pekka Hako, Lic. Phil., M.A. (geb. 1957) gilt als vielseitiger Experte der finnischen Musik. Zur Zeit ist er als Autor, Musikforscher und als Gesamtkoordinator der finnischen Opernaufnahmen tätig. Durch seine Tätigkeit als Autor bzw. Redakteur sind bisher elf Bücher entstanden, u.a. Biographien über Jorma Hynninen, Einojuhani Rautavaara, Joonas Kokkonen und Martti Talvela samt viele Werke über die finnische Oper.

1991–2000 war er Leiter des Informationszentrums für finnische Musik FIMIC. Er hat zahlreiche verantwortliche Positionen des finnischen Musiklebens inne (u.a. Vorstandsmitglied der Savonlinna Opernfestspielen 1994–1997, Mitglied des künstlerischen Rates 1991–2002.) Momentan ist er Vorsitzender des künstlerischen Rates für Ernsthafte Musik der Stiftung für Förderung finnischer Tonkunst LUSES.

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