Zum Tod von Leif Segerstam (2.3.1944 -9.10.2024)

„Finnland – kleine Großmacht der Musik“ – ist das großdarstellende Bescheidenheit?

Das fraglos Großmächtige dieser bedeutenden Musik- und Kulturnation war in den letzten Jahrzehnten ohne Leif Segerstam nicht vorstellbar.

Nun ist diese musikalische Koryphäe am 9. Oktober 2024 im Alter von 80 Jahren in Helsinki verstorben. Leif Segerstam hatte das absolute Gehör und ein inneres Metronom, war Musik bis in die Haarspitzen, er spielte Violine, Bratsche und Klavier, und er begann mit knapp 20 Jahren zu dirigieren. Er selbst sah sich in seinen reiferen Jahren mehr als Komponist denn als Dirigent, krönte jedes Gastdirigat am liebsten mit einer Uraufführung seiner eigenen Sinfonien, eigentlich immer begleitet mit einer Sibelius Komposition.

Auf diese Weise hat er international über 100 (in Worten einhundert) von 371 Segerstam-Sinfonien neben weiteren Kompositionen bei jeder Uraufführung meist selbst geleitet bzw. beaufsichtigt.

Segerstam –Sinfonien sind grundsätzlich immer „frei pulsierend“ und ohne Dirigent, dafür durch und mit musikalischen Impulsen in der Komposition aufzuführen. Die Impulse für den Sinfonielauf können durch ein einzelnes Instrument z.B. Flöte geleitet werden, ebenfalls haben wir die Impulsgebung durch Leif Segerstam selbst am Klavier sowie ein weiteres Mal durch einen Hammerschlag des Saaldieners auf ein kurzes Stück Eisenbahnschiene, das vor dem Orchester anstelle des Dirigierpultes als finales Instrument für den Schlussakkord, aufgestellt war, erlebt.

Leif Segerstam machte die Vorgabe und achtete streng darauf, dass alle seine Sinfonien 22 Minuten dauern sollten und zwar – in Anlehnung an die 7. Sinfonie von Jean Sibelius, die einsätzig, eine ursprünglich 4-sätzig entworfene Sinfonie kompositorisch weiterentwickelt und konzentriert worden ist. Sie dauert 22 Minuten.

Über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren suchten wir seine Nähe und hatten das Glück, an seinem musikalischen Genie Anteil nehmen zu können. Bei ca. 30 Konzerten haben wir im Segerstam Dirigat alle 7 Sinfonien, das Violinkonzert, die Chorsinfonie Kullervo und Orchesterlieder (mit Matti Salminen) von Jean Sibelius sowie dazu knapp 20 Uraufführungen der Segerstam Kompositionen, mit Leif Segerstam erleben können.

Bei den meisten dieser Konzerte durften wir neben verschiedener Konzertproben fast immer die Generalprobe besuchen und waren einmal dabei, als Leif Segerstam recht aufgebracht dem Orchester lautstark erklärte: „Das ist heilige Musik!“ Unterbrochen hatte er hier eine Sibelius-Sinfonie.

Bei unseren Begegnungen im jeweiligen Konzertumfeld hat er uns Vorträge über seine Glückszahl 32, über eigene medizinische Problemsituationen gehalten und führte uns sein eigenes grandioses Gedächtnis vor. In einem Gespräch nach einem Konzert in Duisburg mit Skrjabin im Februar 2013 erinnerte ich mich an ein Konzert in Leipzig vom 1. März 1999 ebenfalls mit Skrjabin. Er korrigierte mich: „Ja, aber nicht Poem sondern die 3. Sinfonie habe ich da dirigiert“.

In eingebrannter Erinnerung bleibt im Jahr 2000 das Ballett „Baldur“ von Jorma Uotinen in Reykjavik nach Musik von Jon Leifs, natürlich dirigiert von Leif Segerstam. Der Isländer Jon Leifs schrieb Musik wie z. B. „Geysir“ und „Heklar“, wobei es Leif Segerstam gelang, mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra „neben Orchesterklängen, Steine zu hämmern, Schwermetallketten zu schmieden sowie Stahlplatten und Sirenen zum Klingen zu bringen“ (FAZ).

Ein Geschichte schreibendes Konzert erlebten wir im Dezember 2004 in Turku mit dem Programmschwerpunkt der Sinfonien 104 von Joseph Haydn sowie daneben die Uraufführung der Sinfonie 104 von Leif Segerstam.

Nach diesem Konzert hat Leif Segerstam uns seiner Biografin Minna Lindgren mit der Erklärung: “Diese beiden Deutschen kommen zu jeder meiner Uraufführungen“, vorgestellt.

Persönlich kennen gelernt haben wir in diesem Konzertumfeld ebenfalls Prof. Fabian Dahlström *1930, Sibelius Forscher und Verfasser des großen Sibelius – Werke –Verzeichnis von 2003 (verlegt bei Breitkopf & Härtel)

Leif Segerstam war auch zuständig für Rekorde: 2015 (Sibelius 150. Geburtstag) dirigierte er alle 7 Sinfonien von Sibelius mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra innerhalb von 36 Stunden in drei Konzerten.

Unzählige weitere Begebenheiten von und mit Leif Segerstam, sind in dem Buch „Finnlands Dirigenten“ von Vesa Sirén auf den Seiten 477 bis 528 zu erfahren.

Nun sind wir von Trauer erfüllt, – aber überglücklich, so viel Anteil an seinem Genie miterlebt zu haben.

Jetzt ist Leif Segertstam von uns gegangen und musste seinem eigenen Lebensziel untreu werden, denn dieses lautete: „Leif ist Leben“

Dezember 2024, Wilhelm Düring

Filmpremiere: „Finlandia – Sibelius‘ Hymne der Freiheit”, 52 Min., Deutschland 2024 (ARTE/NDR)

Ausstrahlung auf ARTE, am Sonntag, 23. Juni 2024, um 23.50 Uhr und auf arte.tv bis zum 20. September 2024.

Kein Werk des Komponisten Jean Sibelius (1865–1957) ist enger mit seiner Biografie verwoben, keines politisch aufgeladener, keines enger mit dem Kampf der Finnen um Freiheit und Unabhängigkeit verbunden, keines bekannter als Finlandia.

Gleichzeitig ist es Sibelius’ Schicksalswerk. Geschrieben auf dem Höhepunkt seines privaten und künstlerischen Lebens ist es sein größter Triumph. Nach der Uraufführung wird Jean Sibelius zur Symbolfigur der finnischen Freiheitsbewegung. Doch das Werk ist zugleich eng verwoben mit der größten Tragödie seines Lebens. Auch heute noch ist es omnipräsent: ob von-Heavy Metal-Bands gecovert, als Filmmusik verwendet, von Militärkapellen gespielt oder von Chören gesungen – Finlandia ist Teil der finnischen Seele.

Eine Dokumentation des NDR in Zusammenarbeit mit ARTE, gedreht an Originalschauplätzen in Finnland, erzählt nun die Entstehungsgeschichte der weltbekannten Melodie und erkundet wie Sibelius berühmtestes Werk sein Leben überschattete wie ein Fluch.

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