– von Dr. Peter Kislinger
Die Wiener Philharmoniker ließen 1951, noch zu Lebzeiten von Jean Sibelius (1865 – 1957), am Haus Wiedner Hauptstraße 36 / Waaggasse 2 im 4. Wiener Gemeindebezirk eine Gedenktafel zur Erinnerung an dessen Aufenthalt in Wien vom Oktober 1890 bis Juni 1891 anbringen. Tatsächlich aber hatte der finnische Komponist, wie der Musikhistoriker Markku Hartikainen mit Hilfe des Ö1-Moderators Peter Kislinger herausfand, eine Wohnung im Haus Ecke Waaggasse 1 (Ecke Wiedner Hauptstraße 38) gemietet.
Inhaltsverzeichnis
Präludium
Am 13. Mai 2004 meldete die APA:
Sibelius-Gedenktafel wird in Wien enthüllt – diesmal am richtigen Haus.
Mehr als 50 Jahre befand sich die Gedenktafel am falschen Haus in der Wiedner Hauptstraße. Am 15. Mai enthüllen die Botschaft von Finnland und die Wiener Philharmoniker die Gedenktafel am nunmehr historisch belegten Haus.
Am Samstag, den 15. Mai 2004 um 15 Uhr wurde die alte Gedenktafel, ergänzt um eine neue mit zusätzlichem Text, vom Botschafter der Republik Finnland, SE Tom Grönberg, und dem Vorstand der Wiener Philharmoniker, Prof. Dr. Clemens Hellsberg, neben dem Eingang des Hauses Waaggasse 1 enthüllt. Im Rahmen einer kleinen Feier spielte ein Bläserensemble der Wiener Philharmoniker vor etwa 60 Versammelten u.a. Musik von Jean Sibelius, die in Wien entstanden war.
Peter Kislinger beschreibt den Weg, der zur nicht eben alltäglichen Tafelübersiedlung führte.
Die Wieden – Wiege der finnischen Kunstmusik
Das „Conservatorium der Wiener Musikfreunde“ war es, das 1890 einen jungen Komponisten „aus dem Norden“ nach Wien zog. Gewohnt hat er auf der Wieden, im 4. Wiener Gemeindebezirk. Eine Gedenktafel am Haus Wiedner Hauptstraße 36 erinnerte seit 1951 daran. Als der 25–jährige Jean Sibelius am 25. Oktober in Wien eintrifft, hat er im Gepäck schon über 100 z. T. größere Musikstücke, meist im Stil der Wiener Klassik. In Wien, der „Hauptstadt der Musik“, wie er schreibt, will sich Sibelius den letzten Schliff holen. Er möchte bei Brahms oder Bruckner studieren, nimmt dann aber bei Carl Goldmark und Robert Fuchs Privatunterricht und knüpft allerlei Kontakte. Für ein im Jänner anberaumtes Vorspiel bei Professor Jakob Moritz Grün (Konzertmeister der Wiener Philharmoniker und des Hofopernorchesters) übt er, neben den Kompositionsstudien, Violine, scheitert aber; auch das offizielle Probespiel bleibt ohne Erfolg. Am 8. Juni 1891 reist Sibelius ab. Abgesehen von zwei kurzen Aufenthalten im Zuge größerer Reisen sind keine weiteren Aufenthalte in Wien belegt. (Vgl. www.sibelius.fi: Er besucht, auf der Durchreise von Dresden kommend, am 27. Juni 1897 in Wien „alte Plätze“, am Nachmittag oder Abend den Prater; schon am nächsten Tag schreibt er eine Korrespondenzkarte aus Graz; der zweite Aufenthalt ist mit 28. März 1901 datiert).
1951 wurde nach einem Gastspiel der Wiener Philharmoniker mit Wilhelm Furtwängler in Helsinki und einem Besuch bei Sibelius in seinem Haus Ainola in Järvenpää, nahe Helsinki, dem mittlerweile vor allem wegen seiner sieben Sinfonien und Tondichtungen (etwa En saga, Lemminkäinen-Suite, Pohjolas Tochter, Tapiola) weltberühmten Komponisten eine Gedenktafel gewidmet:
Hier wohnte 1890-91 Jean Sibelius
des finnischen Volkes grosser Sohn
Angebracht wurde die Tafel, die auch einen Kopf im Profil zeigt, der, abgesehen vom kahlen Haupt, wenig Ähnlichkeit mit dem jungen, auch nicht dem alten, Sibelius aufweist, am Haus Wiedner Hauptstraße 36. Denn, so die karge briefliche Auskunft des damals 86-Jährigen, er habe „neben dem Gluck-Haus“ gewohnt.
Was die Wiener Philharmoniker und der „Wiener Verkehrsverein“ damals nicht wissen konnten: Als Absender hatte Sibelius in den Monaten seines Aufenthaltes allerdings immer fein säuberlich geschrieben: Waaggasse 1/ II/ 2 / 14. Seiner Verlobten Aino, seiner späteren Ehefrau, schrieb er: „Das Zimmer geht auf einen Innenhof, und das Haus ist fünfstöckig.“
Für die Untermiete bezahlte Sibelius seinem ungarischen Vermieter monatlich insgesamt 28 Gulden (inklusive zwei Mahlzeiten), 8 Gulden für das Klavier. (Der durchschnittliche Jahresmietzins betrug damals in Wien zwischen 100 und 160 Gulden; für ein Mittagessen in einem Restaurant mit „gut bürgerlicher Küche“ musste 1 Gulden kalkuliert werden; für den selben Betrag konnte man sich auch 60 Semmeln oder ein Arztbesuch leisten.)
Ein finnischer Sibelius-Forscher, Markku Hartikainen, kam nach Wien und fand seinen Verdacht bestätigt, dass Tafel und Wohnhaus nichts miteinander zu tun hatten. Ich habe daraufhin Stadtpläne eingesehen und bin den Hinweisen nachgegangen, durchaus im wörtlichen Sinne: Ich zählte Stockwerke, wagte mich in Hinterhöfe, fand in der Wiedner Hauptstraße 36 keine Tür 14, nicht im Erdgeschoß, auch nicht im 1., auch nicht im 2. Stock. Aber Waaggasse 1 – da passte alles. Dr. Hellsberg, der Vorstand der Wiener Philharmoniker, fand die Argumentation stimmig und erklärte sich bereit, die Übersiedlung der Tafel zu unterstützen.
Es war in Wien, auf der Wieden, in der Waagasse, dass Sibelius, noch vor der politischen Unabhängigkeit Finnlands, eine eigenständige finnische Kunstmusik zu Papier brachte. Hier entstanden u.a. erste Skizzen zur „Kullervo-Sinfonie“ und zur sinfonischen Dichtung op. 9 „En saga.“
Die erste Sprache des späteren finnischen Nationalkomponisten Jean Sibelius war Schwedisch gewesen. In seiner Wiener Zeit schrieb er zunächst noch überwiegend Schwedisch, „weil man nicht fünf Minuten braucht, um ein Wort zu schreiben.“ In der 1100 Briefen umfassenden Korrespondenz zwischen „Janne“ and Aino sind von Sibelius ca. 70% auf Schwedisch, ca. 30% auf Finnisch abgefasst, bei Aino ist das Verhältnis ziemlich genau umgekehrt. Sein (Tagebuch-)Wortschatz betrug 90.000 schwedische, 353 deutsche, 271 lateinische, 260 französische und ganze 61 finnische Wörter; auch vier russische: Sibelius zitierte seine Schwiegermutter. In Wiens Kaffeehäusern beginnt Sibelius das „Kalewala“ zu lesen, das „finnische Nationalepos des Elias Lönnrot.“ Ab den späten 90er Jahren schrieb und sprach Sibelius ausgezeichnetes Finnisch, einen leichten schwedischen Akzent sollte er jedoch nie verlieren.
Sibelius nimmt Unterricht bei Robert Fuchs und Carl Goldmark, geht in die Hofoper (hört, gleich am 28. Oktober, Mozarts „Don Giovanni“, dann Bizets „Carmen“, Wagners „Tristan und Isolde“ etc.), geht in den Musikverein, wo er, wie er Aino anschaulich schildert, am 21. Dezember die Uraufführung der revidierten Fassung der 3. Sinfonie Bruckners hört, den er damals als den „größte[n] aller lebenden Komponisten“ bezeichnet, was ihn nicht hindert, die Form der Symphonie „lächerlich“ zu finden. Im Ronacher denkt er „viel zu sehr“ an seine Verlobte, wie er ihr schreibt, „als dass ich Gefallen an den Mädchen finden könnte, die hier auftreten – wenn auch einige von ihnen recht attraktiv sind.“
Goldmark findet eines der Orchesterstücke, die Sibelius für ihn schreibt, „schwach orchestriert.“ Fuchs erscheinen Arbeiten „barbarisch und roh.“ Die Kritik beginnt Wirkung zu zeigen und bewegt ihn zu einer radikalen, ja durchbruchsartigen Änderung der Musiksprache, wie man sie im 19. Jahrhundert etwa bei einem Richard Wagner nach ähnlich epigonalen Anfängen kennt. Am 3. Februar 1891 verbrennt Sibelius in einer Wohnung in der Waaggasse (aber welche Nummer?) einige seiner „deutsch-österreichischen“ Musikstücke – unter„spöttischem Gelächter.“ Sein Genie, schreibt Vesa Sirén, der Musikkritiker der finnischen Tageszeitung „Helsingin Sanomat“ und Autor eines unschätzbaren, leider nicht ins Deutsche übersetzten Buches über Sibelius, war angefacht. (54 Jahre später wird Sibelius im berühmten „Feuer von Ainola,“ im Kamin des Esszimmers seines Hauses in Järvenpää – heute ein Museum und in knapp 30 Minuten mit dem Auto von Helsinki zu erreichen – die Skizzen, vermutlich die gesamte Partitur, seiner oft angekündigten 8. Sinfonie vernichten.)
Am 22. Februar 1891, in einem „Philharmonischen“ unter Hans Richter, hört er „vom weltberühmten Goldmark“ dessen Sinfonie „Ländliche Hochzeit.“ Am 12. April 1891, wieder im Goldenen Saal, wieder dirigiert Richter, Beethovens „Neunte“. Am 13. April ist er „überwältigt, ich musste heulen […], fühlte mich so klein, so klein.“ Sibelius sucht Trost bei Finnischem – im vom finnischen Gelehrten Elias Lönnrot aus 100.000 Versen zusammengetragenen und kompilierten finnischen Nationalepos „Kalewala.“ Wie und wo kommt man Wien sonst noch Finnland nahe? Heute vielleicht in der Sauna, damals aber: „Im Wiener Wald! […] Es war genau wie in Finnland: Birken und Fichten. Hie und da Veilchen und Dotterblumen. Alle meine Stimmungen kommen aus dem Kalewala – jetzt kriege ich eine bessere Vorstellung meiner Sinfonie [ = die Chorsinfonie „Kullervo“]. Sie ist völlig anders, als was ich bisher geschrieben habe.“ (Sibelius im April 1891) Er zeigt Robert Fuchs die Skizzen des ersten Themas. Fuchs zeigt sich zum ersten Mal beeindruckt. Finnische klassische Musik, klassische finnische Musik, finnische Kunstmusik (oder wie auch immer man „ernste Musik“ bezeichnen möchte) hat ihre Wurzeln in Wien. Kühn die Bilder mischend schreibt Vesa Sirén: „Das ist offenbar typisch für uns Finnen. Ein Bein steht in den mythischen Wäldern des Kalewala, das andere greift ins Herz Europas aus.“
Waaggasse 1 oder 2? Oder: Auf der Suche nach dem fünften Stock
Es war eine verkürzte Version dieser Geschichte, die Vesa Sirén seinen Lesern in einem großformatigen Artikel im „Helsingin Sanomat“ im April 2002 erzählte. Anlass war das Gastspiel des RSO Finnland im Wiener Konzerthaus; Jukka-Pekka Saraste dirigierte an drei Abenden im Wiener KH alle sieben Sibelius-Sinfonien, während zur selben Zeit ein vom damaligen finnischen Kultur- und Presseattaché Timo Heino initiiertes und von Univ.-Prof. Harmut Krones von der Musikuniversität Wien geleitetes Symposion zu „Sibelius und Wien“ stattfand.
In diesem Zeitungsartikel hatte auch Herr Pal Dass seinen großen Auftritt. Sibelius – so erzählte er Vesa Sirén und allen, die Interesse an der Tafel über seinem Laden in der Wiedner Hauptstraße 36 mit indischen Kleidern, Räucherstäbchen und indischen Devotionalien zeigten – Sibelius erscheine ihm regelmäßig im Traum. Der Meister spreche zu ihm. „Sibelius ist ein Erleuchteter.“
Sirén beschrieb im Artikel – wie ja von der Tafel suggeriert und vom Traum autorisiert – das Wohnhaus von Sibelius und erzählte den finnischen Lesern, dass die Wohnung auf den Innenhof blickte, dort, wo „jetzt eine sanfte Brise die Blätter einiger Bäume sanft umschmeichelt.“ Das Gebäude sei von einem Bombentreffer während des Zweiten Weltkrieges beschädigt worden, und nach zahlreichen Umbauten gäbe es daher keine Tür, an die Sibelianer anklopfen könnten. (Vgl. dazu auch Krones). „Tausende Menschen” würden die Tafel seines „Freundes Sibelius”, so der Geschäftsinhaber, an der Fassade seines Ladens fotografieren. Womit beschäftige sich denn Sibelius so, wollte Vesa Sirén wissen. Er wünsche, frei zu sein. Er sei ein von Gott Gesandter gewesen. Zwei Arten von Musik gäbe es, gute und schlechte, so der indisch-österreichische Sibelius-Intimus, und „wenn das Herz rein ist, dann ist auch in der Musik Freude und Liebe.“ Ob Sibelius glücklich sei, wollte Vesa Sirén im April 2002 noch wissen. Er sei eins mit seiner Musik und schwinge in Übereinstimmung mit dem Kosmos. „Liebe kommt vom Herzen, nicht vom Verstand.“
Markku Hartikainen, finnischer Musikhistoriker und auf den Spuren der Reisen und Wohnadressen von Sibelius, vertraute weniger seinen Träumen als seinem wachen Verstand, als er den Artikel im „Helsingin Sanomat“ las und seinen Blick länger auf dem abgedruckten Stadtplan verweilen ließ. Er fragte sich, ob das Haus auf der rechten oder linken Straßenseite zu finden war (was aus dem Stadtplan nicht hervorging). Sein Verdacht: Wenn der gezeigte Straßenabschnitt im Norden beginnt, dann müsste die Adresse auf der Waaggassenseite doch „Waaggasse 2“ sein. Markku äußerte seinen Verdacht auf einer Sibelius gewidmeten Website (www.sibelius.fi.) Auch ein Foto des Hauses mit der Gedenktafel stellte er ins Netz.
Ein Jahr später, im Juni 2003, war es mir mit Hilfe der Österreichisch-Finnischen Gesellschaft gelungen, die Uraufführung der rekonstruierten (verlorengegangenen) Septett-Fassung der sinfonischen Dichtung „En saga“ im Brahms-Saal zuwege zu bringen.
Auch ich hatte nach meiner Recherche für die Konzert-Moderation – vor allem wegen der Stockwerkzählung und der Türnummer – Zweifel an der Richtigkeit der Adresse, doch waren die Macht des Gedruckten und die Autorität des Gemeißelten stärker. So erzählte ich, wider den Augenschein, im Brahmssaal vom Aufenthalt des Komponisten im „Haus Waaggasse 1 [sic] /Wiedner Hauptstraße 36“ und las u. a. diese Briefstelle vor:
Mein Zimmer hier ist groß und hat zwei Fenster und ist sehr hoch. In der Mitte des Zimmers steht ein Flügel, auf dem sich meine ganze Musik stapelt. Die Möbel bestehen aus zwei Fauteuils und einem Sofa, das schon bessere Tage gesehen hat. Zwischen den Fenstern hängt ein Spiegel, der zusammen mit dem Waschtisch das Hübscheste im Zimmer ist. Dann gibt es da noch zwei Schränke, drei Tische und einen Korbsessel, den ich mir gekauft habe, um mich für Unbequemlichkeiten abzuhärten. Über dem Kamin steht eine Tonfigur eines Heiligen […]. Das Zimmer blickt auf einen Innenhof, und das Haus ist fünfstöckig. Meine erste Mahlzeit ist um 12 Uhr, und zu Abend esse ich um 7.
Es ist sehr kalt hier, und ich brauche eine Menge Brennstoff. Man kann in ein Kaffeehaus gehen und dort so an die zwei Stunden über einer Schale Kaffee Zeitungen lesen ohne sich bemüßigt zu fühlen, etwas anderes zu konsumieren. Finnische Zeitungen sind hier nicht zu bekommen, aber finnische Nachrichten finde ich doch einige in der schwedischen Presse.
Finale und Aktenschluss
Im August 2003 begleitete Markku Hartikainen seine Frau zu einem Ärztekongress nach Wien. Markku erinnert sich noch genau an das Gefühl, als er, von der Oper kommend, das Haus mit der Gedenktafel auf der rechten Straßenseite sieht: „Ich wusste sofort, die Tafel ist am falschen Haus.“ Das war doch Ecke Wiedner Hauptstraße 36 / Waaggasse 2. Und da sieht er schon das „echte Sibelius-Haus“, fünfstöckig, wie von Sibelius beschrieben, allerdings, über dem Eingang des Hauses: „Waaggasse 1″.
Noch waren es bloß Indizien. Er wollte das Stadtarchiv im Rathaus aufsuchen: Wegen Restaurierung geschlossen; dann das Bezirksmuseum: Geschlossen. Der Filialleiter der „Bank Austria,“ Waaggasse 1, wusste nichts über das Haus. Markku flog nach Finnland zurück. Was fehlte, waren Belege. Markku fasste Verdacht und Faktenlage am 20. September in einem Email an mich zusammen.
The windows of Sibelius´s room were on the courtyard side and according to the composer there were 5 floors (which fits the building Waaggasse 1 / Wiedner Hauptstraße 38: i.e. basic floor + 4 floors). Sibelius paid monthly 20 guldens (the room on the second floor, No. 14, 2 daily meals) and 8 guldens (for the grand piano) (a total of 28 guldens a month) to his HUNGARIAN landlord. Now, the address he gave, “Waaggasse 1 II St. 1.14” is the correct one, but, Peter, I think that what is now the Sibelius house with a “Gedenktafel“ is the wrong one.
It says “Waaggasse 1″ above the entrance to the building which is on THE CORNER OF WAAGGASSE AND WIEDNER HAUPTSTRASSE 38 !!! (NOT WIEDNER HAUPTSTRASSE 36, WHICH IS THE PRESENT SIBELIUS HOUSE).
I need information about this building from 1890-91, because I suspect that Sibelius lived in this building.
Am 23. September 2003 nahm ich im Bezirksmuseum Wieden Einsicht in einen Stadtplan aus dem Jahr 1912: Auch damals war Haus „Waaggasse 1“ nicht an der Ecke „Wiedner Hauptstraße 36”. Noch am selben Tag inspizierte ich „Waaggasse 1.“ Tatsächlich: eine „Stiege II,” sogar eine Türnummer 14, allerdings im 1. Stock. Hatte Sibelius nicht in Dutzenden Briefen immer vom 2. Stock gesprochen? Leicht erklärt: In Finnland zählt das Erdgeschoß als 1. Stock. Auch hier gehen die Fenster auf einen Innenhof, allerdings: weniger geräumig. Sogar eng. Eher finster. Gar nicht biedermeierlich. Keine malerischen – tonmalerischen – und tröstenden Bäume. Passt nicht in eine verfilmbare Komponistensaga.
Meine Jubelmeldung an Markku gipfelte in den Worten: „In contrast to 36 Wiedner Hauptstraße, the building does indeed have the five floors Sibelius mentions in his letters!”
Mein diesmal zielgerichteter Lokalaugenschein im Haus „Wiedner Hauptstraße 36“ hatte zudem ergeben: drei Stockwerke – inklusive Erdgeschoß: magere vier. Es gibt auch hier eine „Stiege II”, aber im ersten (für Sibelius zweiten) Stock die Türnummern 8 und 9; und im zweiten Stock: Türnummern 10 und 11. Markkus Vermutung hatte sich zunächst bestätigt.
Schließlich antwortete uns am 24. September der Sachbeauftragte Marcus Gamauf von der Gebäudeverwaltung des Hauses „Waaggasse 1“, die Wohnung mit der Nummer 14 sei seit der Erbauung – vermutlich in den 1860er oder 70er Jahren in der Substanz unverändert, es gebe keine Hinweise auf einen Bombentreffer während des 2. Weltkrieges. Als Beweis galt dem Experten „schon alleine der derzeitige Zustand der Wohnung.“ Gebäude mit Bombenschäden wurden in der Regel wiederaufgebaut bzw. generalsaniert, was eine Renovierung bzw. Modernisierung der beschädigten Wohnung mit sich brachte. „Nr. 14 hat aber bis zum heutigen Tag keine Toilette, diese befindet sich am Gang“ (ist also eine so genannte „Substandardwohnung.“)
Offenbar stützten sich 1951 die Wiener Philharmoniker und der „Wiener Verkehrsverein“ auf eine vage Angabe des damals 86-jährigen Sibelius, der geschrieben hatte, er habe 1890/91 „gleich neben dem Gluck-Haus“ gewohnt, und damit wohl „nicht weit“ oder „in der Nähe“ meinte. Einsicht in Originalbriefe war den rührigen Herren nicht möglich gewesen, und so fiel die Wahl auf das Haus Wiedner Hauptstraße 36 (seltsamer Weise nicht auf „34“). Meine Vermutung wurde von Markku bestätigt. Sibelius sei bei solchen Angaben immer recht vage gewesen. Neuen Bekannten, denen er bei seinen Aufenthalten in Berlin (man weiß von 36 solcher Besuche) seine Adresse gab, sagte er bloß: „Ainola, in der Nähe von Helsingfors.“ Dutzende an Sibelius adressierte Briefe fanden so ihren Weg. Die E-mail Markku Hartikainens schloss mit den Worten: “I can close the file of my `Waaggasse 1 project´“.
Aktenschluss war in Wien erst im Mai 2004. Es mussten nun die beiden Hausverwaltungen von der geplanten Übersiedlung verständigt werden (die Hausverwaltung des Gebäudekomplexes Wiedner Hauptstraße 36 war „schon ein bisserl traurig, dass Sie uns die Tafel wegnehmen“) und ein Steinmetzmeister gefunden werden. Die Wiener Philharmoniker und die Botschaft der Republik Finnland hatten sich amikal geeinigt, die Kosten der Neuanbringung zu teilen und den historischen Umzug im Rahmen einer kleinen Feier, an der dann gut 60 Personen teilnahmen, zu besiegeln. Vesa Sirén widmete der neuen Wiener Wohnstätte des finnischen Nationalkomponisten eine Doppelseite im „Helsingin Sanomat“ (wieder mit Farbfotos und Stadtplan); Wiens Stadtzeitung „Der Falter“, mit ironisch-respektvollem Kommentar von Carsten Fastner versehen, in der Rubrik Stadtchronik ein kleines Bild, das virtuos weitwinkelig das alte und neue Sibelius-Haus vereinigte; und ich hatte die Hörer von Ö1/ORF bereits im März informiert, in einem „Pasticcio.“
Postludium: Wie Wienerisch war Sibelius?
Mir wollten zwei Briefstellen des jungen Sibelius nicht aus dem Sinn. An den Freund Martin Wegelius schrieb er schon am 25.10.1890: „Denna luft gör mig galen. Walser surra i hufvudet på mig och alla likna de Schuberts.“ Und am 26.10.1890 an seine Verlobte Aino Järnefelt: „Wien är alldeles en ort i min smak. Allt är så gladt och stort, ljust och klart.“
Diese beiden Textstellen ließ ich mir am 27. März 2004 im Café Sperl (also von Sibelius aus gesehen auf der anderen Seite des Naschmarktes) von kompetenter Hand übersetzen, von Gisbert Jänicke, dem Übersetzer von „Kalewala. Das Finnische Nationalepos von Elias Lönnrot.“ Dem Botschafter der Republik Finnland, SE Tom Grönberg, und dem Vorstand der Wiener Philharmoniker, Dr. Clemens Hellsberg, schlug ich vor, am Haus Waaggasse 1 eine Zusatztafel anzubringen, deren Text nun lautet:
Wien ist ein Ort ganz nach meinem Geschmack.
Alles ist so freundlich und groß, hell und klar.
Diese Luft macht mich verrückt.
Walzer schwirren mir im Kopf herum,
und alle sind sie wie von Schubert.
Sibelius, Oktober 1890
Wiener Philharmoniker 2004
Historisch nicht weniger korrekt, bedenkenswert und gedenktafelwürdig wäre ja auch eine andere Briefstelle gewesen, die von der Sibelius-Forschung nicht gebührend beachtet worden ist; belegt sie doch zweifelsfrei, dass Sibelius in Wien nicht nur Finnisch lernte, sich im Tonsatz perfektionierte und die finnische Kunstmusik begründete und hier zu einem der ganz großen Sinfoniker reifte, sondern keine zwei Monate benötigte, um Wienerisch zu erlernen. Er berichtet – schon deutlich weniger luftverrückt – am 18. Dezember 1890:
In dieser Stadt erreicht man nichts, wenn man nicht intrigiert. Ich habe schon damit begonnen, und habe u.a. Freundschaft mit [Carl] Frühling geschlossen – er kennt hier jeden, den man kennen muss. Im Frühjahr trete ich dem Wiener Künstlerverein bei. Und dann werde ich intrigieren, lügen und mich einschmeicheln. Ich habe darin schon Übung.
Einer solchen Revolutionierung der Wiener Gedenktafelkultur kam jedoch die Hausverwaltung zuvor: Die zusätzliche Tafel möge bitte eine bestimmte Größe nicht überschreiten. Diplomatische Verstimmungen zwischen Helsinki und Wien konnten so erst gar nicht aufkommen. Der Vorstand der Wiener Philharmoniker nahm Markku Hartikainen und mir ein Versprechen ab: keine neuen Forschungen vor 2054.
Literaturhinweise
Krones, Hartmut (Hrsg.) Sibelius und Wien. Böhlau Verlag, Wien 2003.
Sirén, Vesa Aina poltti sikaria – Jean Sibelius aikalaisten silmin, Verlag Otava, Helsinki 2000. (Der Titel beruht auf einem Wortspiel: Immer mit Zigarre: Sibelius in den Augen seiner Zeitgenossen // Rauch in den Augen der Zeitgenossen.)
„Kalewala. Das Finnische Nationalepos von Elias Lönnrot,“ Übersetzung von Gisbert Jänicke, Verlag Jung&Jung, Salzburg 2004.
www.sibelius.fi
Peter Kislinger; Dr. phil. (promovierte 1993 mit einer Arbeit über Anthony Powells skandalöser Weise noch immer nicht ins Deutsche übersetze Romanwerk A Dance to the Music of Time); Lehrauftrag am Institut für Anglistik der Universität Wien;
seit 1993 freier Mitarbeiter von Radio Österreich 1 (überwiegend in der Musikredaktion: Pasticcio, Apropos Klassik etc.) und der BBC/Radio 3 (Features zu Karl Kraus, Franz Schmidt und Thomas Bernhard);
hörte in den frühen 70ern des letzten Jahrhunderts abwechselnd Sibelius und Mahler, jeweils mit schlechtem Gewissen (Adorno!); frühes Interesse an Musik aus Finnland und England;
seit 2002 Konsulent der Finnischen Botschaft in Österreich;
wünscht sich, hätte er vier Wünsche frei, von den Wiener Philharmonikern (ganz bestimmte, wie für sie geschriebene) Werke von Sir Michael Tippett, Kalevi Aho und Anders Eliasson; und ein Konzert mit dem Altsaxophonisten John-Edward Kelly.